Die Vergessenen der Pandemie

Arbeitslosigkeit, psychische Probleme, fehlende Medikamente: Die Folgen der Pandemie treffen marginalisierte Menschen besonders. Doch ihre Probleme beachtet kaum jemand.

Von Christina Heuschen

Eine Frau wohnt in einem Asylzentrum in der Umgebung von München. Eines Tages gehen ihr die HIV-Medikamente aus. Sie ruft in ihrer Praxis an und bekommt ein Rezept zugeschickt. Ein Rezept, das sie nicht einlösen kann, weil sie wegen eines Covid 19-Falls in der Unterkunft in Quarantäne sitzt. Ohne Hilfe kann die Frau das Problem nicht lösen. Angelika Timmer kennt den Fall. Die Sozialpädagogin arbeitet im Frauengesundheitszentrum in München und berät HIV-positive Frauen. Manche von ihnen haben eine Fluchtgeschichte hinter sich. Sie weiß, dass viele Frauen die Folgen der Pandemie besonders spüren. Für die geflüchtete Frau sei einiges schiefgelaufen, erzählt sie. „Wenn eine Frau laut ausspricht: „Ich habe keine Medikamente mehr, ich bin in Quarantäne. Können Sie mir das Medikament schicken?“ und die Praxis oder eine Mitarbeiterin sagt dann ja und dann schicken sie ein Rezept. Dann frage ich mich doch: „Bitte?“ Sowas ist für alle einfach nur ein Aufwand“, sagt Timmer. Letztendlich habe sie die Telefoniererei und eine Frau, die sich in der Selbsthilfegruppe „Positive Frauen“ engagiere, habe den Rest übernommen. „Die ist dann in die Arztpraxis gefahren, hat das Rezept geholt, ist in die Apotheke gefahren, hat das eingelöst, ist in die Walachei zum Asylzentrum mit öffentlichen Verkehrsmitteln rausgefahren und hat es über den Zaun geschmissen.“

Dass der Fall kein Einzelfall ist, zeigen die Erfahrungen von drei Menschen, die in Beratungsstellen Frauen sowie inter, non-binären, trans* und a-geschlechtlichen Personen helfen. Sie merken, dass immer mehr die Folgen der Covid 19-Pandemie spüren  ̶  vor allem Asylsuchende, HIV-positive Frauen, trans* und nicht-binäre Menschen sowie Sexarbeiter*innen. Auf den ersten Blick scheinen sie keine Gemeinsamkeit aufzuweisen und dennoch teilen sie ein Problem: Kaum jemand interessiert sich für sie und ihre Schwierigkeiten. Sie werden schlichtweg vergessen.

Diskriminierte Gruppen besonders betroffen

„Es hieß von der Pandemie sind wir alle gleich betroffen. Daran festzuhalten ist eine schöne Form des Selbstbetruges“, sagt Mine Wenzel. Wenzel ist Mitglied der AG Gesundheit im Bundesverband trans* und arbeitet im Verein Andersraum in Hannover. Dort hat Wenzel festgestellt, dass vor allem die Menschen unter den Folgen der Pandemie und den damit einhergehenden Beschränkungen leiden, die von bereits bestehenden Klassengrenzen und geschlechtlicher Diskriminierung betroffen sind. Besonders erschwert werde die Situation, wenn Menschen zu mehr als nur einer weiteren marginalisierten Gruppe gehören und beispielsweise trans* oder nicht-binär sind oder eine Migrationsgeschichte aufwiesen, kritisiert Wenzel.

Tatsächlich sind laut UN Women besonders Mädchen und Frauen gefährdet, die ohnehin schon von institutionalisierter Armut, rassistischen Strukturen und anderen Diskriminierungsformen betroffen sind. So infizieren sie sich häufiger, sterben häufiger an dem Virus und sind stärker von den sekundären Auswirkungen der Pandemie betroffen. „Dieselben gegenderten Ungleichheiten, die für cis Personen gelten, gelten natürlich auch für trans* Personen und für trans* Weiblichkeiten“, sagt Wenzel. Covid 19 hat die Ungleichheiten entlang schon ohnehin unnötiger Grenzen mehr als verstärkt.

Sarah Hermes kann das bestätigen. Die Sozialarbeiterin berät bei der Caritas SKF Essen in der Beratungsstelle freiRaum Sexarbeiterinnen. Sie sagt, die Frauen, die schon vor der Pandemie sehr prekär gelebt haben, lebten nun noch prekärer. Denn viele der Sexarbeiterinnen hätten keinen Anspruch auf Jobcenter-Leistungen, weil sie nie selbstständig gearbeitet haben oder länger als fünf Jahre in Deutschland gemeldet seien. Wenn sie dann noch Drogen konsumieren, sei das Problem enorm. „Jetzt verkriechen die sich vor dem Ordnungsamt, vor den Ordnungsbehörden, in irgendwelchen Büschen und müssen halt irgendwie gucken, wie sie klarkommen. Das heißt, sie müssen anschaffen gehen, um an ihr Geld zu kommen“, erklärt Hermes. Und auch wenn die Frauen Anspruch auf Leistungen hätten, dann sei es oft so, dass sie von Beratungsstellen wie dem freiRaum abhängig seien, weil viele die Formulare des Jobcenters nicht verstehen und es oft zu Missverständnissen komme.

Frauen ziehen sich zurück

Angelika Timmer berichtet ebenfalls, dass es insbesondere für asylsuchende Frauen, die auch noch HIV-postiv sind, zu Missverständnissen kommen könne. Es sei ein ganzes Bündel an Problemen, das die Frauen mit sich tragen: Traumata, beengte Räume, Kinderbetreuung, Sprachbarrieren, Homeschooling, Selbststigmatisierung. Oft lebten die Frauen sehr versteckt und nur wenige Leute wüssten über ihre Situation Bescheid. „Die Frauen in den Unterkünften versuchen das absolut geheim zu halten. Während des Lockdowns ziehen sie sich noch mehr zurück. Sie gehen noch weniger raus.“ Das könne psychisch sehr belastend. Insgesamt hätten positive Frauen oft mit der Anspannung während des Lockdowns zu kämpfen. „Wir haben eine Frau, die hat ihre HIV-Medikamente nicht mehr regelmäßig genommen, weil das alles so eine psychische Anspannung für sie war. Die Viruslast war wieder da. Da ist jetzt auch wieder eine andere zugange und hat sie an die Hand genommen und geht mit ihr zum Arzt“, erzählt Timmer. Sie selbst könne das Gefühl nachvollziehen. „Jetzt lebe ich seit über 30 Jahren mit HIV und jetzt kommt da vielleicht so ein anderes Virus daher und macht es mir schwieriger“, beschreibt sie ihre eigene Situation.

Dass die psychische Belastung zunimmt, stellt auch Wenzel fest. So seien viele LGBTIQ*-Menschen bereits ohne die Pandemie sozial isoliert, da ihre sozialen Kontakte durch ein Outing oder Stigmatisierung abbrechen oder geringer werden. Insbesondere für trans* und nicht-binäre Menschen sei das Risiko erhöht. „Wenn dann noch einmal besonders starke Momente von Isolation wie Lockdowns oder ähnliches darauf projiziert werden, wird das natürlich noch einmal immens erhöht“, erklärt Wenzel. Denn wenn Treffen in der Community, in Netzwerken oder in anderen Gruppen erschwert oder unmöglich werden, sei für diejenigen der Zugang zu Welt und Gesellschaft noch einmal eingeschränkter. Doch fehlen diese sozialen Kontakte, fiele für Betroffene häufig das letzte stabile Umfeld weg. Und die bereits bestehende Gefahr für Depressionen oder gar Suizidalität steigt.

Eine Studie der Deutschen Depressionshilfe aus dem Jahr 2020 zeigt, dass insbesondere Menschen mit Depressionen die Einschränkungen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung als deutlich belastender empfinden. So litten 75 Prozent unter einer fehlenden Tagesstruktur. In der häuslichen Isolation blieben depressiv Erkrankte außerdem deutlich häufiger tagsüber im Bett. Das jedoch könne die Depression weiter verstärken, warnt die Deutsche Depressionshilfe.

Hilfssysteme stoßen an Grenzen

Doch die Kontaktmöglichkeiten sind beschränkt. Nicht alle Therapeut*innen bieten Videogespräche an, manche Klient*innen nehmen das Angebot nicht an. Der Andersraum in Hannover hat sich auf die Situation eingestellt. Beratungsangebote werden teilweise nach draußen verlegt, sodass sich die Beteiligten mit Abstand und an der frischen Luft treffen konnten. Dass die Angebote stattfinden müssen, zeigen die Erfahrungen von Wenzel. „Wir merken, dass Jugendliche unter erhöhtem Stress leiden, dass die sonstigen Themen einfach noch einmal verstärkt werden.“ Denn Jugendliche müssten im Elternhaus ohne die Schutz- und Rückzugsräume der physischen Angebote klarkomme, die es außerhalb der Pandemiezeiten gebe. Das heiße jedoch nicht, dass die Pandemie konformen Treffen immer funktionieren. „Jugendliche in durch den Lockdown induzierten Krisensituationen ‚flüchten‘ sich in die digitale Anbindung   ̶  wie bspw. soziale Medien oder digitale Gruppenangebote wie der Discord Server unseres queeren Jugendzentrums. Diese vermitteln ihnen Sicherheit, ohne die Krisensituation zu lösen. Beratungen speziell zur Krisenintervention nehmen sie aber nicht wahr.“

Auch Hermes sagt, dass sie in ihrer Arbeit an ihre Grenzen gestoßen sei. So hätten sie und ihre Kolleginnen wenig Zeit gehabt, die Sexarbeiterinnen über die Situation zu informieren und Kontaktdaten weiterzugeben. Irgendwann hätten sie einfach draußen Schilder aufgehängt, obwohl der Strich da schon geschlossen war. Zu Beginn der Einschränkungen versuchten sie es sogar mit Zeitungsanzeigen. „Aber es ist schwierig. Wir sind darauf angewiesen, dass die Frauen uns finden. Das ist blöd, weil wir eigentlich eine Stelle sind, die rausfährt zu den Frauen, zu den Plätzen, zu den Bordellen oder zu den Einrichtungen, in denen die Frauen arbeiten. Oder eben am Straßenstrich, wo wir den Beratungscontainer haben, da sind wir praktischerweise schon am Ort, wo Frauen arbeiten.“ Einige hätten den Weg auch zu ihnen gefunden, andere hätten aber weitergearbeitet. Denn auch wenn Sexarbeit verboten sei, finde sie trotzdem statt.

Trotz aller Hindernisse geben Hermes, Timmer und Wenzel nicht auf. Alle drei sind sich einig, dass es zurzeit Unterstützung und Entlastung in allen Bereichen braucht. Und so beraten sie auch weiterhin unter erschwerten Bedingungen. Angelika Timmer weiß, dass manchmal auch Kleinigkeiten helfen. Und sei es, dass sie Telefonate führt, um einer Frau in einer Unterkunft für Geflüchtete ihr HIV-Medikament zu besorgen. Denn damit hat sie bereits einer Person geholfen.