„Kompetenzentwicklung bei lateinamerikanischen Sexarbeiterinnen in Deutschland, um Safer Sex durchzusetzen“

Ixhel Escamilla hat sich in ihrer Doktorabbeit mit Professionalisierungsstrategien von Sexarbeiterinnen aus Lateinamerika beschäftigt. Die Ergebnisse der Dissertation leisten einen wichtigen Beitrag zum Empowerment im Rahmen weiblicher Sexarbeit. Im folgenden werden die Ergebnisse kurz zusammengefasst.

Hintergrund:

Laut Weltgesundheitsorganisation stehen sexuell übertragbare Infektionen (STI), inklusive HIV-Infektionen, für eine der wichtigsten Ursachen von Unfruchtbarkeit, dauerhaften Behinderungen, und Tod (WHO 2012). Aufgrund der Natur ihres Berufes können SexarbeiterInnen einem höheren Risiko ausgesetzt sein, sich mit STI zu infizieren. In Deutschland sind ca. 400.000 Sexarbeiterinnen tätig und ungefähr 1 Million Männer fragen täglich Dienstleistungen von Sexarbeiterinnen nach (TAMPEP 2010). Sexarbeit ist in Deutschland eine Tätigkeit, die hauptsächlich von Migrantinnen ausgeübt wird (TAMPEP 2010, 2007a, 2007b, 2007c). Die größte Anzahl von  Sexarbeiterinnen mit Migrationshintergrund kommt aus Zentral- und Osteuropa, aus Asien, und aus Lateinamerika (TAMPEP 2010). Verschiedene Studien deuten darauf hin, dass Sexarbeiterinnen in Deutschland nicht regelmäßig geschützten Sex praktizieren können (RKI 2012; Bremer 2007, 2006; TAMPEP 2010, 2007b, 2007c). Um den Kondomgebrauch bei Sexarbeiterinnen zu steigern, wird empfohlen, Verhandlungskompetenzen der Sexarbeiterinnen zu  entwickeln. Diese Dissertationsforschung hatte zwei Hauptziele:
 1) Die Identifizierung von Strategien, die lateinamerikanische Sexarbeiterinnen in Deutschland anwenden, um mit unwilligen Klienten die Kondomnutzung zu verhandeln; und 2) die Identifizierung von Ausbildungsoptionen, mit denen solche Verhandlungstechniken verbreitet werden können.

Methodik:

Eine Gatekeeper („Türsteher“) Zugangsstrategie, sowie ein Methoden-Mix von qualitativen Verfahren (inklusive teilnehmende Beobachtung, Fokusgruppen, und Feldinterviews mit Sexarbeiterinnen), wurden angewendet, um die Verhandlungsoptionen identifizieren zu können. Mit der Unterstützung von Organisationen, die für die Verbesserung von gesundheitlichen, sozialen, und politischen Bedingungen der Sexarbeiterinnen arbeiten, wurde Feldarbeit gemacht. Die Arbeit wurde in Bordellen und Fensterhäusern in drei Städten in 3 Bundesländern durchgeführt. Zusätzlich wurden Experteninterviews durchgeführt, um Bildungsoptionen zu erkennen. Erhobene Daten wurden nach Grounded Theorys Elementen ausgewertet und mit dem Computerprogramm Atlas.ti (Version 6.2)  kodiert.

Ergebnisse:

Vier Hauptrektionen auf Kundenanfragen nach kondomlosen Sex  konnten bei den interviewten lateinamerikanischen Sexarbeiterinnen identifiziert werden:
 a) sie lehnen den Klienten kategorisch ab;
 b) sie verhandeln die Nutzung von Kondomen mit ihm;
 c) sie streifen ihm das Kondom über, wenn er abgelenkt ist;
 d) sie verhandeln mit dem Kunden Safer Sex Alternativen zu ungeschütztem penetrativen Geschlechtsverkehr.
Die Forschungsergebnisse  deuten darauf hin, dass der Kondomgebrauch mit verbalen und nicht-verbalen Techniken verhandelt wird. Verschiedene nicht-verbale Verhandlungsstrategien wurden identifiziert. Die Ergebnisse der Datenanalyse deuten auch darauf hin, dass mit den folgenden verbalen Verhandlungsstrategien lateinamerikanische Sexarbeiterinnen in Deutschland versuchen, die Kondomnutzung bei abgeneigten Klienten zu fördern:
 a) sie argumentieren für Safer Sex (bzw. sie geben dem unwilligen Kunde familienbezogene- und gesundheitsbezogene Argumente);
b) sie bieten dem Klienten etwas besonderes (z.B. mehr Zeit oder eine spezielle Leistung) als Gegenleistung für den geschützten Sex an;
c) um den abgeneigten Klienten zu überzeugen, dass geschützter Sex befriedigend ist, schlagen die Sexarbeiterinnen dem Kunden positive Einstellungen zum Safer Sex vor;
d) um den Klienten von seinem Wunsch nach ungeschütztem Sex abzubringen, fordern die Arbeiterinnen von dem Kunden etwas besonderes (z.B. eine ungewöhnlich große Summe Geld);
e) sie stellen dem unwilligen Klienten Fragen, hauptsächlich um seinen Bewusstsein für STI zu stärken.
Außerdem wurden spezifische Techniken nach Kundenart und Kundenargumenten erkannt. Ebenfalls deuten die Forschungsergebnisse darauf hin, dass die Verhandlungsstrategien mit zwei potenziellen Ausbildungsverfahren verbreitet werden können. Diese sind ein Verfahren, das auf der Nutzung von graphischen Aufklärungsmaterialen basierte; sowie ein Verfahren, das auf verbale Interventionen fokussierte. Beide möglichen Ausbildungen wurden nach der Interviewauswertung und der Anwendung der STP-Methode (SUPPORT Tools for evidence-informed health Policymaking) identifiziert.

Schlussfolgerungen:

Im Rahmen von Sexarbeit in Deutschland kann Kondomgebrauch vermutlich nicht mit einer einzigen Technik, sondern mit einem Mix von verbalen- und nicht-verbalen Strategien verhandelt werden. Diese Forschungsergebnisse zeigen eine wertvolle Sammlung von  Verhandlungsstrategien, die Sexarbeiterinnen mit Migrationshintergrund in Deutschland anwenden, wenn sie versuchen, einen abgeneigten Klienten von Kondomnutzung zu überzeugen. Insofern wäre es wünschenswert, in einer zukünftigen Studie die Effektivität der verschiedenen Verhandlungsoptionen zu bewerten.

Literatur:

  • Bremer V. (2006). “Ergebnisse des STD-Sentinels: Trends, Migration und Prostitution”. Vortrag. 16. September 2006.
  • Bremer V. (2007). “Die Rolle von Migration und Prostitution bei STDs. STD-Sentinel”. Robert Koch Institut Mitteilungen. HIV&more. Von Experten für Experten. Ausgabe 1 - März 2007: 38-40.
  • RKI. (2012). “Bericht: Workshop des Robert Koch-Instituts zum Thema STI-Studien und Präventionsarbeit bei Sexarbeiterinnen, 13.-14. Dezember 2011”. Robert Koch Institute. Berlin, 2012.
  • TAMPEP. (2007a). “Gap Analysis of Service Provision to Sex Workers in Europe”. European Network for HIV/STI Prevention and Health Promotion among Migrant Sex Workers.
  • TAMPEP. (2007b). “National Report on HIV and Sex Work. Germany”. European Network for HIV/STI Prevention and Health Promotion among Migrant Sex Workers.
  • TAMPEP. (2007c). “TAMPEP 7. Final Report. Activity Report”. European Network for HIV/STI Prevention and Health Promotion among Migrant Sex Workers.
  • TAMPEP. (2010). “Germany. Deutschland. Dezember 2007-November 2009”. European Network for HIV/STI Prevention and Health Promotion among Migrant Sex Workers.
  • WHO. (2012). “Global incidence and prevalence of selected curable sexually transmitted infections – 2008”. World Health Organization.